Die Kinder stellen die Dimension Raum unterschiedlich dar. Grundsätzlich können wir zwei Kategorien unterscheiden: Schiffe, die effektiv räumlich gebaut sind, d.h. Grund-, Seiten- und allenfalls Deckflächen aufweisen, und Schiffe, bei denen mit anderen Methoden «Räumlichkeit» erzielt wird. Innerhalb dieser zwei Kategorien gibt es verschiedene Abstufungen, die Übergänge sind fliessend. Der markanteste Gegensatz besteht zwischen einem proportional und räumlich stimmig gebauten und einem flächigen Schiff.
Raum kann auf unterschiedliche Weise angedeutet werden: Ein einzelnes Bauelement kann die Dimension Höhe markieren; ein räumlicher Eindruck kann entstehen, indem eine kleine Fläche im rechten Winkel auf eine Grundfläche gestellt und dadurch optisch abgegrenzt wird; zwei Holzleisten, parallel zu den Längsseiten eines Rechtecks montiert, rufen visuell den Eindruck eines Innenraums hervor.
Um eine räumliche Wirkung zu erzeugen, müssen nicht alle Teilflächen eines Körpers gebaut, sondern es kann «lückenhaft» konstruiert werden. Die Betrachterin, der Betrachter neigen dazu, fehlende Flächen und Linien mithilfe des inneren Auges zu ergänzen, d.h. Lücken zu schliessen und Verbindungen zwischen einzelnen Teilflächen herzustellen.
Nachfolgend werden die verschiedenen Möglichkeiten von Raumdarstellung beschrieben, welche in den beobachteten Klassen zur Anwendung kommen:
Geometrisch korrekte Konstruktionen weisen zwar als typisches Merkmal Grund- Seiten- und evtl. Deckflächen auf, sie sind jedoch unterschiedlich ausgeprägt. Anhand des Videomaterials können verschiedene Vorgehensweisen rekonstruiert werden.
Die Auswahl der Werkstoffe und deren Bearbeitungsmöglichkeiten beeinflussen die Konstruktionsweise. So ergeben sich materialbedingt bei Werkstoffen, die in Plattenform vorliegen, andere Konstruktionsweisen als beim Bauen als mit plastischem Material (Ton) oder mit vollplastischen Körpern (Holzklötze).
Zudem ist zu berücksichtigen, dass nicht alle Werkstoffe, die den Kindern zur Verfügung standen, gleichermassen körperhaft sind.
Die im Projekt zur Verfügung gestellten Werkstoffe Holz und Styropor liegen in ganz unterschiedlichen Formen (Platte, Profilstäbe, Klotz) und Qualitäten (dünn-dick, gross-klein, lang-kurz) vor. Die Kinder haben die Materialen meist spontan nach ihren individuellen Vorlieben ausgewählt. Da keine systematischen Übungen zur Erfassung der Materialeigenschaften vorausgegangen sind, können die Kinder die Eigenschaften des Materials erst durch das Hantieren erfahren. Es ist deshalb unbestimmt, wie stark visuelle und haptische Sinneseindrücke die Auswahl beeinflussen.
Die Bearbeitungsverfahren werden bewusst einfach gehalten. Da den Kindern für das Zusammenfügen der Bauelemente zur Verfügung steht, können sie ihre Vorstellungen unkompliziert umsetzen und rasch arbeiten.
Die motorischen Fähigkeiten der Kinder wirken sich auf die Konstruktionen aus. Die räumliche Wirkung des Objekts kann dadurch geschmälert werden, dass Bauteile nicht präzis eingepasst werden und zwischen den Elementen Lücken klaffen. Im Gegensatz dazu bewirken exakt zusammengefügte Flächen eher den Eindruck von Dreidimensionalität. Es ist anzumerken, dass es viel Geschicklichkeit braucht, um schmale Holzflächen senkrecht auf einer Grundfläche zu befestigen oder mehr oder weniger rechteckige Flächen zu einem geschlossenen Wandsystem zusammenzufügen.
Die Dimension «Raum» wird unkonventionell und vielfältig erfasst. Wir stellen eindeutig fest, dass sich alle Kinder darum bemühen, körperhafte Gebilde zu produzieren. Nur zwei Kindern der Vorschulstufe gelingt dies nicht. Sie bauen ihr Schiff flächig aus dünnen Materialien, die während des Arbeitsprozesses flach auf der Arbeitsfläche liegen, um in einem zweiten Schritt die räumliche Wirkung durch Aufstellen der gesamten Konstruktion zu erreichen.
Dass viele Kinder die Werkstoffelemente schichten und verdichtet zusammenbauen, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass sie im Umgang mit Bau- und Konstruktionsspiele (Kappla, Bauklötze) bereits Erfahrung haben.
Die Grenze zwischen zielorientiertem, räumlichen Bauen und «plastisch wirkenden» Konstruktionen ist schwer zu ziehen. Ein Kind, das Wände systematisch ordnet, immer wieder dieselben Winkel anwendet, Plattformen baut, Bauelemente symmetrisch anordnet oder eine separates Häuschen erstellt, kann von der Motivation angetrieben werden, einen Raum zu bauen. Durch das Variieren von Elementen kann sich aber auch ein räumlicher Eindruck einstellen, ohne dass das Kind ursprünglich diese Absicht verfolgt hat.
Die Dimension «Höhe», teilweise durch mehrere Bauelemente dargestellt, wird bei einer grossen Mehrheit der Schiffe deutlich betont. Sie kommt bei Mädchen wie bei Knaben aller Altersgruppen vor. Der Kamin, der Mast, die Fahne, der Hochsitz, der symbolisch dargestellte Rauch in Form eines Holzstabes – diese Bauelemente werden so geformt, dass sie visuell «Höhe» markieren. Die Dimensionen Länge und Breite werden in der Regel durch eine rechteckige Grundplatte bestimmt. Diese Platten werden aus dem Materialfundus herausgegriffen. Nur wenige geben ihr eine Form oder bearbeiten sie gezielt. Einige Schiffe weisen eine klare tektonische Gliederung auf, indem beispielsweise lasttragende Elemente optisch in den Vordergrund treten. (Bild Lukas)
Wir haben innerhalb der Jahrgangsklassen klare Tendenzen hinsichtlich der Dimension Raum festgestellt: Die Mehrheit der Kinder in der zweiten Klasse konstruiert anspruchsvolle und komplexe dreidimensionale Bauten. Es sind kastenartige Konstruktionen mit Seitenflächen, welche teilweise überdacht sind. Interessanterweise sind diese waagrechten Dachflächen «bespielbar». (Bild Sara)
Die Schiffe der ersten Klasse weisen eine geringere räumliche Ausprägung auf und wirken weniger einheitlich, als jene der zweiten Klasse. Dieser Eindruck entsteht weil die Seitenwände niedriger und die Wandsysteme ungeschlossen und unvollständig sind (nur die Ecke angedeutet, hinten und vorne offen gelassen). Hier werden keine zusätzlichen Gebäude gebaut und in die Gesamtkonstruktion integriert. Eine Gliederung der Raumhöhe kommt in Form von schmalen Querleisten vor oder wird durch Flächen dargestellt, welche nach aussen ragend an den Wänden befestigt worden sind. (Bild Thomas)
Einige Kinder lassen die Grundfläche des Decks am Rande frei und deuten Dreidimensionalität mit dem Bauelement «Mast» an.
Bei der Kindergartenklasse der älteren Kindern kommen keine kastenartigen Formen vor, welche den Raum in der Höhe, Tiefe und Länge begrenzen. Die Kindergartenkinder konstruieren vielfältigere Schiffe als die Schulkinder. Die Dimension «Raum» wird auf höchst unterschiedliche Weise angegangen: Jens baut in Schichten, Laure verwendet eine vorgefundene plastische Form als Grundform, Martin setzt hohe senkrecht stehende Wände und Nicolas setzt voluminöse vollplastische Formen ein. Viele Grundflächen werden seitlich nicht mit Wandelementen begrenzt. Leo baut sein Schiff flächig. Die Bauten der älteren Kindergartenkinder wirken insgesamt leicht, offen und spontan. (Bild Mael)
Bei der Kindergartenklasse der jüngeren kann keine einheitliche Bauweise beobachtet werden. Das Spektrum reicht von stark räumlich wirkenden Bauten mit Wänden (Karin) oder mit zusätzlicher Gliederung der Horizontalen (Lukas) bis hin zu flächigen Darstellungen. Das Schichten von Plattenmaterial kommt in ausgeprägter Form zur Anwendung. Goran häuft kleine Werkstoffstückchen an, als Zeichen der dritten Dimension (Goran). Erwähnenswert ist eine spezielle Konstruktion: Marie hat «Raum» durch diagonal, sich kreuzende lange Stäbe dargestellt, das Ganze wirkt wie ein Zelt.
Wann ist ein Schiff ein Schiff? Dreidimensionales funktionales Gestalten mit vier- bis achtjährigen Kindern.
Ein Projekt der Pädagogischen Hochschule Bern, des Schweizerischen Werkbundes SWB und des Schulverlags.
(c) 2010–2018 iwan raschle | raschle & partner / Schweizerischer Werkbund SWB | XHTML 1.1