Die Schiffe sprechen eine vielfältige, im ersten Augenblick unüberschaubare sinnliche Sprache. Die systematische Analyse der Gebilde lässt jedoch Gesetzmässigkeiten und einige typische ästhetische Verhaltensweisen erkennen.
Etwa die Hälfte aller dreidimensionalen Konstruktionen sind als Schiff identifizierbar, einige wenige davon verkörpern sogar einen bestimmten Schiffstyp. Folgende Schiffstypen wurden realisiert: Segelschiff, Kutter, Rennboot und Fähre. Dabei ist das Segelschiff das am häufigsten gewählte Modell. Zwei Schiffe von älteren Schulkindern sind in einem hohen Mass visuell real dargestellt, beispielsweise ein Piratenschiff.
Beim Betrachten der Schiffsbauten treten drei Merkmale besonders häufig auf: die längliche Gesamtform, der spitze Bug und der Mast.
Längliche Form: Die meisten Kinder wählen ein Rechteck oder eine andere längliche Form. Der Entscheid für eine längliche Grundform fällt in der Regel zu Beginn der ersten Bauphase. (Bild Remo)
Die Spitze am Bug des Schiffs kommt bei etwa einem Drittel der Schiffsbauten vor. In Gesprächen mit Kindern stellt sich heraus, dass vorn und Spitze synonym verwendet werden. Am meisten tritt die Spitze bei den Schiffsbauten der zweiten Klasse auf, am wenigstens bei der ersten Klasse und wieder häufiger bei den jüngeren Kindergartenkindern. (Bild Jolanda)
Ausgesprochen viele Kinder bauen als weiteres Attribut einen Mast mit Segel oder Fahne. Werden andere längliche Bauelemente dazugezählt, welche symbolisch Kamin und Rauch bedeuten, so betrifft dies etwa die Hälfte aller Schiffe. An einem Mast wird die Fahne oder das Segel befestigt, er trägt die Plattform oder andere technische Einrichtungen. Tendenziell verwenden Schulkinder häufiger Mast, Fahnenstange und Ähnliches als Kindergartenkinder. (Bild Chiara)
Die realen Schiffe bestehen aus einem Schiffsrumpf, der je nach Ladung mehr oder weniger unterhalb der Wasserlinie liegt, und einem Aufbau, bestehend aus Deck und Oberdeck. Es fällt auf, dass die Schiffe der Kinder keine Schiffsrümpfe aufweisen.
Bei Baubeginn wählen viele Kinder eine längliche Grundplatte. Daran wird deutlich, dass sie die Seitenlänge des Schiffs berücksichtigen wollen. Stefan Becker schreibt, dass Kinder beim Modellieren eine bestimmte Ansicht eines Objekts bevorzugen. So werden beispielsweise Tiere in der wesenstypischen Seitenansicht plastiziert. Häuser und Menschen bilden sie in der Frontalansicht nach (vgl. 2003, S. 67). Bei den Schiffsbauten scheint die Seitenansicht wichtig zu sein.
Das Herstellen einer Spitze zeugt vom Bedürfnis der Erbauerinnen und Erbauer, Raumorientierungspunkte zu setzen. Der spitze Abschluss wird gleichzeitig als vorn respektive als Bug bezeichnet. Im realen Schiffsbau dient die Stromlinienform dazu, den Wasserwiderstand zu reduzieren. Es kann davon ausgegangen werden, dass Kinder die Buge nicht aus funktional bedingten Gründen spitz zulaufend formen, sondern weil es für sie ein optisches Merkmal ist.
Die häufige Darstellung des Masts kann inhaltlich begründet werden. An diesem senkrecht stehenden Element werden beispielsweise meist eine Fahne oder ein Segel befestigt.
Dass keine Schiffsrümpfe gebaut werden, hängt wahrscheinlich mit der Tatsache zusammen, dass bei real schwimmenden Schiffen nur Deck und Oberdeck visuell wahrgenommen werden können.
Die Kinder wählen sehr oft Rechtecksformen. Sie kommen in allen Ausprägungen vor: vom schmalen Streifen bis hin zum fast gleichseitigen Rechteck. Die rechteckigen Holzflächen werden als Grundbrett oder als Wände sowie beim Ausbau des Oberdecks verwendet. Auch der Quader kommt oft vor, beispielsweise in voluminöser Ausführung für die Darstellung eines Sessels oder in vielen schlanken, länglichen Ausführungen für die Darstellung technischer Elemente. (Bilder Thomas, Lionel)
Die dreieckige Form wird vor allem für das Segel verwendet. In einem Fall dient sie der Darstellung eines Hutes (Bild Lionel).
Längliche, schlanke, zylinderartige Formen werden meistens für Stangen sowie für den Ausbau des Oberdecks verwendet. Kurze, dicke Zylinder stellen oft Figuren oder technische Einrichtungen dar. Scheibenförmige Bauelemente treten in einer Halbklasse auffallend oft auf. Diese Elemente schneiden die Kinder selber aus einer Fläche aus zur Darstellung technischer Bauteile, von Spielzeug oder von Wohneinrichtungsgegenständen. (Bilder Daria, Sara)
Einige Kinder stellen freie Formen für die Ausgestaltung des Schiffs her. Es ist ersichtlich, dass sie bestimmte Vorstellungen verwirklichen wollen. Die Formen weisen meist organische, weiche Linienzüge auf, wie beispielsweise eine Wasserwelle oder den Umriss eines Tiers. Im Materialfundus standen viele unförmige Reststücke zur Verfügung, einige Kinder lassen sich davon anregen und setzen sie meist unbearbeitet in ihrem Bauwerk ein. (Bild Mael)
Der häufige Einsatz von Rechtecken durch die Kinder ergibt sich durch das Verwenden von Holz- und Styroporplatten. Das Sägen von Holz sowie das Trennen von Styropor mit dem Styroporschneider lassen eher eckige, geometrische Formen zu. Eine organische Formgebung ist nur mit grossem Aufwand zu realisieren. Das Rechteck wird meistens für Gegenstände eingesetzt, die real auch rechteckig sind (Bett, Decke). Insgesamt ist das Rechteck die am meisten benutzte Grundform.
Die Zylinderform ergibt sich durch die vielen unterschiedlich dicken Holzrundstäbe und durch die Korkzapfen.
Die Scheibe kommt vor allem als kleineres Bauelement vor. Sie wird vorzugsweise für Deckausbauten verwendet. Die Kinder formen sie gezielt aus Styropor. Gelegentlich lochen sie diese oder sägen sie von einem Holzstab ab. Die erste Herstellungsart erfordert viel Geschick. Scheiben werden vor allem von den älteren Kindern produziert.
Freie Formen werden ausschliesslich aus Styropor hergestellt, indem die Kinder es brechen oder trennschmelzen.
Werden die Schiffsbauten auf optische Linien hin untersucht, so werden vor allem die Vertikale und die Längsachse betont. Als einziges Kind hat ein Erstklässler (Mirko) die Querachse ausgestaltet.
Die Senkrechte, zum Teil durch mehrere Elemente auf demselben Deck dargestellt, kommt bei zahlreichen Schiffen vor. Der Kamin, der Mast, die Fahne, der Hochsitz, der symbolisch dargestellte Rauch in Form eins Holzstabs – diese Bauelemente markieren visuell Höhe. Dieses Phänomen tritt unabhängig von Alter und Geschlecht der Hersteller und Herstellerinnen auf. Etwa bei einem Fünftel aller Schiffsbauten wird die Längsachse betont. Einerseits durch die längliche Form der Grundplatte, andrerseits durch das Anordnen der Bauelemente entlang der Längsachse.
Das symmetrische Konstruieren und Anordnen von Bauelementen kommt bei vielen Schiffen vor, unabhängig vom Alter der Kinder. Beispielsweise werden zwei Seitenwände parallel platziert oder links und rechts von einem Bauelement wird je ein Liegestuhl aufgestellt.
Die Grösse der Schiffe variiert enorm: von klein bis gross, von niedrig bis turmhoch. Es lassen sich keine Merkmale pro Jahrgangstufe oder Geschlecht ausmachen. (Bild Svenia)
Mehrheitlich stimmen die Proportionen einzelner Bauelemente, beispielsweise diejenigen eines Steuerrads, nicht mit der Grundkonstruktion des Schiffs überein.
Die Betonung der Senkrechten und der Längsachse kann inhaltlich begründet werden: Sie sind wichtige Merkmale eines Schiffs. Aus der Rekonstruktion der ersten und der zweiten Bauphase kann geschlossen werden, dass die Anordnung von Bauelementen entlang der Längsachse erst nach dem Bau der Spitze respektive des Bugs oder des Masts erfolgt ist. Offensichtlich helfen diese Orientierungspunkte den Kindern, sich die Mittellinie vorzustellen.
Nach Becker ist die Symmetrie ein morphologisches Kennzeichen bei Plastiken von Grundschulkindern. Symmetrische Darstellungen werden zu den grundlegenden ästhetischen Aktivitätsformen gezählt. Man geht davon aus, dass diese Äusserungen intrinsisch motiviert sind (2003, 67).
Die Grösse der Schiffe lassen keine Schlussfolgerungen über die Altersstufe zu. Hingegen zeigt sich, dass sich die Kinder in der Gruppe gegenseitig beeinflussen. Die jungen Kindergartenkinder bauen ebenso grosse respektive kleine Konstruktionen wie Kinder der ersten oder der zweiten Klasse.
Der Grund, weshalb die einzelnen Bauteile tendenziell zu gross gebaut werden, liegt vorwiegend darin, dass die Produktion von kleinen und kleinsten Formen aufwendig ist und umfassende feinmotorische Fähigkeiten voraussetzt. In der zweiten Klasse werden am meisten kleine, detaillierte Formelemente hergestellt. Bei überdimensioniert geformten Gegenständen kann der Grund in der Affektproportionierung liegen. Becker weist darauf hin, dass die Kinder durch die gewählte Grösse die Wichtigkeit eines Gegenstandes hervorheben wollen (2003, 71).
Bezogen auf die Grundkonstruktion des Schiffs, dominiert bei der ersten und der zweiten Klasse die Farbe des Holzes, nämlich Gelb-bräunlich und Mittelbraun, bei den Kindergartenkindern tendenziell das Weiss des Styropors. Einige Kinder wählen die Farben für die Bauelemente bewusst aus. Dies ist daran zu erkennen, dass beispielsweise mehrere Abstufungen einer Farbe vorzufinden sind, dass mit Farbkontrasten gearbeitet wird oder die gleiche Farbe bei mehreren Objekten auf demselben Schiff zu finden ist. Drei Mädchen wählten goldene und silberne Stoffe aus, um Bauelemente oder Fahnen zu gestalten. Die jüngeren Kinder haben weniger Flächen farbig gestaltet als die älteren Kinder.
Die Wahl der Farbe erfolgt grösstenteils intuitiv, ausgelöst durch den taktilen und optischen Reiz, den die Stoffe auslösen. Es stehen sehr viele Farben und Qualitäten von Textilien zur Verfügung: von glänzend oder matt über transparent, von weich bis samtig. Werden auf einem Schiff mehrere Farben eingesetzt, kann teilweise ein bestimmtes Farbkonzept erkannt werden. Dies ist bei den Schiffen der Schulkinder häufiger zu beobachten als bei den Schiffen der Kindergartenkinder. Tendenziell haben Schulkinder die Farben eher der Funktion und der Form der Bauelemente angepasst als die jüngeren Kinder, ein Segel ist beispielsweise weiss oder Kohlblätter sind grün.
Wann ist ein Schiff ein Schiff? Dreidimensionales funktionales Gestalten mit vier- bis achtjährigen Kindern.
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