In der Fachdidaktik dreidimensionales Gestalten besteht ein grosser Bedarf nach Grundlagenwissen. Das Forschungsprojekt lenkt den Fokus auf die Lernsituation und fragt, wie diese gestaltet werden muss, damit, ausgehend vom individuellen Niveau der Kinder, Lernprozesse in Gang kommen und Fortschritte sichtbar sind. Richtungsweisend für das Projekt waren Forschungen zum Sachunterricht und zur Kunstpädagogik, die sich an der neuen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung orientieren.
Forschung
Unser Forschungsfeld umfasst eine Kindergartenklasse (städtisch), eine erste Klasse der Primarschule (Agglomeration) und eine zweite Klasse (ländlich). Das Forschungsteam verbrachte 18 Halbtage in den Klassen. Insgesamt waren 48 Kinder beteiligt. Die Feldaufenthalte haben ein bis drei Objekte pro Kind sowie Videoaufzeichnungen der Unterrichtssituation, der Gestaltungsprozesse von 8 Kindern sowie Aufnahmen von Gruppen- und Einzelinterviews am Wasserbecken hervorgebracht. Die Studie wurde von der PHBern finanziert. Die Laufzeit betrug 1 1/2 Jahre.
Theoretischer Hintergrund und Forschungsdesign
Die neue sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung betrachtet Kinder als Akteurinnen und Akteure in ihrer Lebensumwelt, als «produktiv realitätsverarbeitende Subjekte» (Hurrelmann). Diese Forschungsrichtung befasst sich intensiv mit der Frage, mit welchen Beobachtungs- und Erhebungsmethoden die Perspektive von Kindern angemessen erfasst werden kann. Es sind Verfahren nötig, welche die Reaktionen und Erwartungen der Forschenden reflektieren und die an die Kommunikationsmöglichkeiten von Vorschulkindern und jüngeren Schulkindern angepasst sind (Heinzel 2000: 30 ff.; vgl. auch Honig et al. 1999). Als qualitativ oder auch interpretativ bezeichnete Verfahren arbeiten mit einer kleinen Fallzahl, aber mit ausgedehnter Beobachtung oder vertieften Fragen. Anders als standardisierte Instrumente wie Frage- oder Beobachtungsbögen laufen diese Methoden weniger Gefahr, dass die Erwachsenenperspektive die kindlichen Erfahrungen und Ausdrucksweisen verdeckt oder ausblendet. Deshalb sind sie für das Erforschen kindlicher Erfahrungen besonders geeignet (vgl. Hülst 2000).
Die Forderungen der Kindheitsforschung haben wir in dreierlei Hinsicht berücksichtigt:
- Forschungsdesign: Durchführung von drei Unterrichtssequenzen im Bereich technisches Gestalten: Kinder bauen ein Schiff aus vielfältigem, nicht vorgefertigtem Material, das in grossen Mengen zur Verfügung steht. Einige Bearbeitungsverfahren werden vorgängig vorgezeigt und geübt. Die Aufgabenstellung wird narrativ eingeführt; sie ist einfach und offen. Die Kinder bauen in zwei Phasen. Nach der ersten Phase testen sie im Wasserbecken, ob ihre Schiffe schwimmtüchtig sind.
- Erhebung: Videogestützte teilnehmende Beobachtung: Im Gegensatz zu anderen Forschungsansätzen wird die Auswertung der teilnehmenden Beobachtung nicht durch vorgängig formulierte Hypothesen gesteuert. Die Beobachtungsdaten lassen Interpretationen in verschiedene Richtungen zu. Die Präsenz der Forschenden ist Teil der Interpretation, entsprechend der Annahme, dass es keine Beobachtung ohne Teilnahme gibt, da Forschende die Situation stets mitprägen (vgl. Beck/Scholz 2000).
- Auswertung: In vielen Bereichen operiert sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung mit verstehenden Verfahren. Dahinter steht die Absicht, «die selbstverständlich gegebene soziale Wirklichkeit als voraussetzungsvolle gesellschaftliche Konstruktion» zu erforschen (Berger und Luckmann). Für die Analyse der Objekte und Videosequenzen haben wir verschiedene Verfahren der interpretativen Sozialforschung sowie aus der Kunstpädagogik kombiniert (Peez 2000; Strauss und Corbin 1996; Kelle und Kluge 1999).
Auswertung und Ergebnisse
Beschreibung und Analyse der Objekte
- Quantitative Auswertung der Objekte
Die Schiffe wurden in mehreren Positionen fotografiert und anschliessend mithilfe der im Videomaterial dokumentierten Erläuterungen der Kinder (transkribiert) beschriftet. Dies betraf vorwiegend die Bauelemente, aber auch Teile des Schiffrumpfs. Danach wurden, ausgehend von der beschreibenden Analyse des Materials, die folgenden Kategorien rekonstruiert: Rumpf (Schwimmfähigkeit, Form, Werkstoff); Oberbau (Werkstoff, Bauweise); Bauelemente (Antrieb, Zubehör/Technik, Wohnen); Passagiere und Anzahl der Schiffe. Diese Auswertung ergab nur geringfügige Unterschiede in Bezug auf die Jahrgangsklassen und führte zu keinerlei differenzierten Aussagen. Es wurden keine nennenswerten geschlechtsspezifischen Differenzen festgestellt.
- Qualitative Auswertung
In einem ersten Schritt wurden die Objekte einer eingehenden phänomenologischen Deskription unterzogen. Ausgehend vom Material, wurden allgemeine Gestaltungsprinzipien sowie die Charakteristiken der einzelnen Gestaltungsobjekte ermittelt. Im Hinblick auf die Kategorien Schwimmtüchtigkeit und Oberbau wurde das Videomaterial (Gestaltungsprozesse und Interviews am Wasserbecken) eingehend analysiert und einbezogen. In dieser Analyse kristallisierte sich die folgende neue Ordnung heraus: visueller Realismus, bezogen auf die Merkmale eines Schiffs; formale und farbliche Qualitäten der Schiffe; Dreidimensionalität; Konstruktionsweise; funktionaler und visueller Realismus der Bauelemente Wohnen; funktionaler und visueller Realismus der Bauelemente Technik; verwendete Werkstoffe; technologische Qualitäten im Kontext Motorik und Ästhetik.
In mehreren Schritten wurden die Ergebnisse verdichtet. Eine auf der Grundlage von Wessels erstellte Struktur in Form einer Matrix diente als Kontrastfolie für unsere Ergebnisse. Wessels nimmt eine Einteilung vor, die im Wesentlichen vier Aspekte beschreibt: Prozess, Funktionalität, Raumdarstellung und Ästhetik. Unsere aus der Kontrastierung hervorgegangene modifizierte Struktur kindlicher Gestaltungsprozesse und der Produkte umfasst fünf Bereiche: Gestaltungsprozess, Konstruktion, Schwimmen, Darstellungsformen und Ästhetik. Die Resultate der Materialanalyse wurden im theoretischen Kontext der jeweiligen Bezugswissenschaften fachinhaltlicher und fachdidaktischer Ausrichtung (Wahrnehmung, ästhetische Erfahrung, Physik: Schwimmen und Sinken, Spieltheorie) verortet.
Auswertung des Videomaterials
Das Videomaterial wurde zunächst in Bezug auf die Gruppendynamik und die Vor- und Nachteile von Lernumgebung und Forschungsanlage gesichtet (mit den Lehrpersonen). Die Analyse der Gestaltungsprozesse erfolgte in vier Schritten (Grounded Theory): Ein erster Analyseschritt ergab eine Reihe von deskriptiven Codes oder Kategorien: zum Beispiel Inspiration (Lehrperson, Peers, Material, vorläufige Gestalt des Objekts); Rhythmus (Bauphasen, Materialeinsatze); Konkurrenz (Peers; Dynamik am Wasserbecken). In einem weiteren Schritt wurden die Codes geordnet und zu Schlüsselkategorien verdichtet. Als zentral erwiesen sich hier zum Beispiel die Interaktionen der Kinder mit der Lehrperson und zwischen den Peers. Der dritte Schritt umfasste Vergleiche und Kontrastierungen der Gestaltungsprozesse. Diese ergaben einen Merkmalsraum, in dem die Kategorien entlang verschiedener Achsen angeordnet sind. Diese Analyse dokumentiert das Spektrum von Strategien der Kinder im Gestaltungsprozess. Schliesslich wurden die Strategien in einem weiteren Schritt zu Typen zusammengefasst.
Wann ist ein Schiff ein Schiff? Dreidimensionales funktionales Gestalten mit vier- bis achtjährigen Kindern.
Ein Projekt der Pädagogischen Hochschule Bern, des Schweizerischen Werkbundes SWB und des Schulverlags.